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Eine Reise nach Ostrava, Kinokarten und das Telefonbuch von Wien

Ich bin Ja ein bekennender Wessi. Man könnte auch Turbowessi sagen, weil meine Wessi-Ignoranz keine Grenzen kennt. Das drückt sich regelmäßig darin aus, dass ich nicht kapiere wieso Nichtwessis manche Dinge so völlig anders sehen als ich. Damit will ich nicht sagen, dass meine Sicht auf die Dinge richtig und die der anderen falsch ist. Nein, es geht darum, dass ich manchmal einfach Dinge nicht sofort kapiere, eben weil ich sie durch meine Wessi-Brille sehe. So ist mir einst auch im vermeintlichen Westen etwas begegnet, was ebenso mit dieser Ignoranz zu tun hat. Vorausgesetzt das die Republik Österreich (amtlich gesprochen) vor 1990 dem Westen zugehörig war, fiel ich mit meiner mir eigenen Ignoranz so richtig schön auf die Nase, und zwar weil ich Deutscher bin. Während meiner Tätigkeit bei der Firma Sprague flatterte nach dem Fall der Mauer eine Einladung in unser Vertriebsbüro, mit der Anfrage, einen Vortrag über Tantalkondensatoren in Ostrava zu halten. Das liegt in der heutigen Tschechei. Mein damaliger Chef hatte beschlossen, ich solle das machen. Also guckte ich wie da hinkomme. Gesagt getan und da ich auch Siemens und Kapsch in Wien betreute, flog ich nach Wien um unsere zwei Kunden zu besuchen und dann mit einem Leihwagen über Brünn nach Ostrava zu fahren. Als ich Sonntagsabend in Wien ankam und am Flughafen einen Golf ergattert hatte, wollte ich zu meinem Hotel. Es war dunkel, es regnete und ich suchte mein Hotel. Ich irrte durch Wien ohne Stadtplan und hatte keinen Plan wie ich das Hotel, von welchem mir unser Büro nur den Namen gegeben hatte, finden sollte. Irgendwann fuhr ich auf eine Tankstelle um mich durchzufragen. Der freundliche Tankwart war ebenso ahnungslos wie ich, weil er das Hotel nicht kannte. Also bat ich ihn mir das Telefonbuch zu geben, um nach der Adresse zu suchen. Daraufhin warf er mir zwei ca. 6 bis 7 Zentimeter dicke Telefonbücher auf den Tresen und ich begann nach dem Hotel zu suchen. Ich fand nichts. Ich war schlicht zu dämlich, ich blätterte und blätterte mich durch die Bände und dauernd wechselte die Buchstabenreihenfolge. Frustriert fragte ich dann den Tankwart, wie ich denn in den Büchern das Hotel finden solle. Der glotzte mich nach dem Motto an, ist der zu blöd zum Lesen? Ich riss mich zusammen und studierte nochmal die Bücher und als es mir dämmerte meinte ziemlich zeitgleich der Tankwart, das seien die Telefonbücher von Österreich. Na toll, ich suchte direkt in den Einträgen, statt erstmal Wien aufzuschlagen. Man lernt nie aus im Leben und der größte Fehler ist es, aus seinem eigenen Dunstkreis auf Andere oder Anderes zu schließen. Klar fand ich nun das Hotel und die Adresse. Der Tankwart gab mir die ungefähre Richtung vor und ich machte mich auf die Socken.

Nachdem ich am nächsten Tag meine Termine in Wien erledigt hatte, ging es los in Richtung Grenze. Dort angekommen erlebte ich dann den Osten nicht zum ersten Male in Reinkultur. Ich händigte einer Grenzerin meinen Pass aus. Der Wessi-Fehler war, dass in meinem Pass hinten mit einer Büroklammer der Kinderpass unseres Sohnes fixiert war, was dazu führte, dass die Grenzerin das Kind suchte, welches aber nicht da war. Nach zehnminütiger Diskussion in nicht vorhandenem Englisch auf Seiten der Grenzerin hatte sie endlich kapiert, dass das Kind nicht mitreiste. Daraufhin stempelte sie endlich meinen Pass ab und vermerkte am Stempel sinngemäß: „reist ohne Kind ein.“ Das ist der erste ungewöhnliche Eintrag in dem Passexemplar. Den zweiten sollte ich viel später in Schweden erhalten, als ein völlig beseelter Grenzer meinen Pass abstempelte, obwohl ich auch mit dem Personalausweis hätte einreisen können. Ja liebe Kinder, Zeiten ohne Navigationssystem, ohne Schengen und ohne Euro. Nach meinem erfolgreichen Grenzübertritt fuhr ich nach Brünn und dort in die Innenstadt. Ich fand ein, nennen wir es, Kaufhaus. Sozialistisch/Kommunistisches Kaufhaus trifft es eher, es roch muffig und überall so DDR-Holztresen. Dort erstand ich drei Landkarten für umgerechnet weniger als 2 Mark, Geld hatte ich an der Grenze getauscht und fuhr los in Richtung Ostrava. Nach einem Höllenritt von knapp 5 Stunden mit Straßensperrungen und Umleitungen noch und nöcher kam ich dann auch dort an. Damals wusste ich nicht, dass meine Urgroßmutter nur ca. 60 Kilometer von Ostrava, in österreichisch Schlesien geboren war, sonst hätte ich mich mehr mit der Gegend beschäftigt. Während der Veranstaltung lernte ich dann einen Herrn aus Freiberg kennen und schätzen, dem wir die Einladung zu verdanken hatten, weil er sich in der DDR schon mit Kondensatoren (Keramische Werke Hermsdorf) beschäftigt hatte. Wir tranken des Abends viel Bier und – ein Fehler – etwas von dem berüchtigten Becherovka. Während wir uns so unterhielten erzählte ich von meinem Ritt von Wien nach Ostrava und der Freiberger lachte den dummen Wessi – zurecht – kräftig aus, denn er meinte, die Karten seien doch alle falsch gedruckt worden, damit der Feind (Westen) die Hauptstraßen nicht findet. Er erklärte mir dann wie ich ganz einfach in 2½ bis 3 Stunden zurückfahren könnte. Also nahm ich auf dem Rückweg die angesagte Route, was auch gut funktioniert hat.

Reist-ohne-Kind-ein

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Womit wir bei Herrn F. angekommen sind. Der Herr F. war Vertriebsleiter der Firma Europe Chemi-Con, welche Aluminiumkondensatoren herstellte und hatte bei der Veranstaltung über diese referiert. Der Herr Flesch war aber auch ein alter Haudegen im Außendienst. Vielleicht der dreistete der mir je begegnet ist. Auf der Rückfahrt hatte ich auf einer endlos langen Ost-Brücke, sowas hätte man im Westen aus Mangel am Mangel so nie gebaut, einen Traktor vor mir und eine durchgezogene Linie – ÜBERHOLVERBOT – links von mir. Der Trecker ging mir auf dem Geist und ich konnte kilometerweit ins nächste Tal blicken, somit überholte ich das Ding einfach. Am Ende der Brücke aber hatten sich die tschechischen Schupos mit Ferngläsern postiert und winkten mich raus. Man wollte glaube ich 200 Kronen von mir, was damals irgendwas bei 10 DM waren. Ich zahlte und als Quittung bekam ich aus einem in Segmente perforierten Abreißblock mit Kronenwerten gestempelte Märkchen. Als ich im Folgejahr Herrn F. wieder traf, unterhielten wir uns über Ostrava und die Rückfahrt. Es stellte sich heraus, dass die Schupos auch ihn an der gleichen Stelle abkassiert hatten. Während ich das hier schreibe, frage ich mich gerade ob die Schupos vielleicht den Trecker beauftragt hatten, die Brücke immer rauf und runter zu fahren, damit es in der Kasse klingelt – na, egal. Herr F. jedenfalls fragte mich beiläufig was ich den mit den gestempelten Märkchen gemacht hätte.
„Weggeschmissen natürlich, was sonst“, war meine Antwort. Daraufhin lachte er nur und meinte:
„ich nicht. Ich habe die Dinger meiner Sekretärin gegeben und gesagt, das seien Kinokarten und sie solle die normal abrechnen“! Tja, so wird’s gemacht. Ich glaube ich hänge hier vielleicht den Witz vom Handelsvertreter an.

Letztes Kuriosum dieser Reise ist, dass als ich auf dem Weg zum Flughafen Wien kurz vor der österreichischen Grenze wieder österreichisches Radio empfangen konnte, in den Nachrichten von Schüssen und Wachsamkeit an der Grenze die Rede war und mich fragte, ob Orson Welles seine Marsmännchen exportiert hatte. Als ich abends nach Hause kam und mit meiner mir von unserem Multiversum anvertrauten Gattin über die Reise sprach, lachte sie und meinte:
„hast Du denn gar nichts mitgekriegt? In Jugoslawien ist Krieg ausgebrochen!“
Nee, ich hatte nichts mitgekriegt, außer das ich mich über die Aufregung der Österreicher im Radio köstlich amüsiert hatte. Heute, angesichts des Ukraine-Krieges, weiß ich nicht, ob ich über meine damalige Ahnungslosigkeit lachen oder weinen soll.

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